Salutogenese:
Gottes Heil - das Glück des Menschen

Textgrundlage für den Beitrag:

Jacobs, C. (2000). Auf der Suche nach dem heilen Menschsein. Don Bosco Magazin, 4/2000 , 4-9.

 

1. Auf der Suche nach dem heilen Menschsein

1.1 Heil und Glück

"Alle Menschen streben nach Glück". So oder ähnlich sagen es fast alle großen Philosophen zu allen Zeiten der Geschichte. Und es dürfte nur ganz wenige Menschen unter uns geben, die für sich selbst und andere diese Aussage nicht bejahen würden. "Herzlichen Glückwunsch", "Mensch, hat die ein Glück!", "Jeder ist seines Glückes Schmied": solche Äußerungen sind uns geläufig. Auch wenn die Meinungen über die Wege zum Glück weit auseinandergehen, in einem sind sich fast alle einig: Die Sehnsucht nach Glück und Gelingen bewegt uns Menschen immer und überall.

"Alle Menschen streben nach Heil". Diese Behauptung klingt schon etwas fremder. Vermutlich wäre auch sie weitgehend zustimmungsfähig, wenn man das Wort "heil" so interpretiert, wie es von seiner Herkunft her verstanden werden will. Heil hat sprachlich sehr viel mit Ganz-Sein, mit Sich-ganz-Verwirklichen zu tun. Wer sein Leben selbst verwirklichen möchte, wer ein "ganzheitlicher" Mensch sein möchte, will letztlich "heil" sein. Glück und Heil sind vom sprachlichen Ursprung her miteinander verwandt. Leider haben sie sich in den vergangenen Jahrhunderten im Sprach- und Lebensverständnis der Menschen sehr auseinanderentwickelt. Während Glück zum Alltagsbegriff geworden ist, wurde Heil für viele zu einem Wort der religiösen Spezialisten.

Der Zusammenhang von Glück und heilem Menschsein bleibt jedoch trotzdem offenkundig. Wer sich zum Beispiel im Internet mit Hilfe der großen Suchmaschinen auf die Suche nach Glück und Heil begibt, der stößt nicht nur auf Zehntausende von Verweisen, sondern auch auf ein weiteres Wort, das mit Glück und Heil in ganz enger Beziehung zu stehen scheint: das Wort "Gesundheit". Glück und Heil im Alltag haben im Bewußtsein der meisten Menschen sehr viel mit Gesundheit zu tun. "Hauptsache gesund" – so lautet die Devise für viele Menschen, die sich als glücklich und zufrieden bezeichnen. Bereits ein kranker Zahn kann sich umgekehrt mit seinen schmerzlichen Folgen derart nach vorne drängen, daß das ganze Leben für eine Weile davon mitgerissen wird. So ist es auch kein Wunder, daß wir Menschen bereit sind, für unsere Gesundheit große Anstrengungen zu unternehmen und auch sehr viel Geld auszugeben. Der Wunsch nach Gesundheit ist geradezu ein Symbol für die Sehnsucht nach Heilsein. Daher lohnt es sich, eben diese Sehnsucht nach Heilsein mit allen Mitteln zu fördern.

1.2 Auf der Suche nach dem Heil der Seele

In unserem gesellschaftlichen und persönlichen Alltag sehen wir es vor allem als Aufgabe von Medizin und Psychologie an, Leistungen im Dienst der Gesundheit zu erbringen. Die Heilung von Krankheit steht dabei meist zunächst im Vordergrund. Denn: "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und säße in deren Besitz mit einem Magenkrebs, Sodbrennen und Prostrataschwellung" (so der Schriftsteller John Steinbeck im Jahre 1953). Die Medizin hat gewaltige Erfolge zu verzeichnen, und die Gesundheit der meisten Menschen ist besser als in den vergangenen Jahrhunderten.

Allerdings ist immer mehr deutlich geworden, daß die körperliche Gesundheit nur eine Seite von Gesundheit ist – und die medizinische Perspektive nur ein Weg, Gesundheit zu betrachten. Ein Körper wird nur dann gesund sein, wenn in ihm eine gesunde Seele lebt. Die Psychosomatik hat gezeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen Körper und Geist tatsächlich ist. Daher braucht es für eine ganzheitliche Sicht von Gesundheit ohne Zweifel ebenso auch die psychologische Perspektive.

Was aber versteht man unter seelischer Gesundheit Nach Aussagen der wissenschaftlichen Psychologie hat seelische Gesundheit verschiedene Facetten: a) die Freiheit von psychischer Krankheit, b) die Fähigkeit, den Alltagsaufgaben mit einer angemessenen Leistungsfähigkeit nachzukommen, c) ein inneres psychisches Gleichgewicht, d) die Flexibilität, auch neue Herausforderungen zu meistern, e) die Kompetenz zur Verwirklichung eigener Ziele durch persönliche Aktivität und Kreativität, f) persönliches und soziales Wohlbefinden. Deutlich wird dabei: So wie körperliche Gesundheit weit mehr ist als die Abwesenheit von körperlicher Krankheit, so ist auch seelische Gesundheit mehr als die Feststellung, nicht psychisch gestört zu sein. Seelisches Heil und körperliches Heil sind ein dynamischer Prozeß, ein ganzheitliches Geschehen. Sie sind mehr als die Heilung oder die Vermeidung von Krankheit, sie sind mehr als Aufhebung von Defiziten. Doch dafür braucht es neue ganzheitliche Modelle des Verstehens und Handelns, die in den letzten Jahren von den Gesundheitswissenschaften entwickelt bzw. gefördert worden sind.

2. Lebenskräfte fördern: Das Motto der Salutogenese

2.1 Salutogenese: Ein fundamentaler Perspektivenwechsel

Während sich die klassische Medizin und die klassische Psychologie in der Regel auf die Vermeidung und Heilung von Krankheiten und Defiziten konzentrieren, vertreten die modernen Gesundheitswissenschaften einen konstruktiven, positiven und ganzheitlichen Grundansatz. Ihr Konzept heißt: Es ist wichtiger, besser (und billiger), die zahlreichen Ressourcen und Potentiale von Menschen zu fördern, als ausschließlich damit beschäftigt zu sein, Krankheiten, Defizite und Krisen zu therapieren. Förderung der Lebenskräfte ist sinnvoller als "Reparatur

dienstverhalten". Mit anderen Worten: Es braucht einen fundamentalen Perspektivenwechsel. Die alles entscheidende Frage lautet nun nicht mehr: Was macht (einzelne) krank , sondern: Was macht (alle) gesund und heil

Dieses Modell der positiven Ressourcenorientierung und Förderung der Lebenskräfte hat in der Wissenschaft und den Konzepten der Weltgesundheitsorganisation den Namen "Salutogenese" erhalten. Das Wort ist eine kreative Wortschöpfung des amerikanisch-israelischen Mediziners A. Antonovsky. Es bedeutet in einem Wort zugleich "Gesund-Werdung" und "Heil-Werdung". Der entscheidende Bestandteil des Wortes ist das lateinische Wort "salus": das alte Wort für Gesundheit – aber auch das theologische Wort für Heil.

Salutogenese ermutigt zu einer anderen Sicht auf das Leben. Das eigentliche Geheimnis angesichts der gefährlich-faszinierenden Herausforderung, die da "Leben" heißt, lautet:

• Wie kommt es eigentlich, daß die meisten von uns ihr Leben so sehr mögen und lieben

• Wie kommt es, daß die meisten Menschen ihr Leben so gut meistern, die Gefahren ihrer Existenz so behütet überstehen

• Wie kommt es, daß wir Menschen sogar in Krankheiten und Krisen wachsen und das Leben heil und ganz vollenden

2.2 Was sind die Kernpunkte einer solchen Sichtweise

Der wissenschaftliche und alltagsbedeutsame "Modellwechsel" zur Salutogenese hat verschiedene Aspekte im Denken und Handeln:

• Wer salutogenetisch lebt, lernt vor allem das Staunen angesichts der Vielzahl der Möglichkeiten, die Menschen besitzen, um ihr Leben zu meistern.

• Wer salutogenetisch lebt, gewinnt die volle Aufmerksamkeit für die Förderung aller Prozesse, die es ermöglichen, den Herausforderungen des Lebens gerecht zu werden. Der Sieg über alle Krankheiten ist eine Utopie. Keine Utopie, sondern realistisch und wünschenswert ist dagegen die Indienstnahme aller Kräfte von Leib, Seele und Geist für eine gelingende Lebensentwicklung.

• Wer salutogenetisch lebt, begreift Gesundheit und Krankheit als ein einziges Kontinuum. Kein Mensch ist nur gesund – aber ebenso ist keiner nur krank. Daher gilt: Wer sich auf die Förderung des Gesunden konzentriert, schwächt wie automatisch die Krankheitsprozesse.

Die Forschungen zur Salutogenese haben versucht, das Wirkzentrum einer solchen grundsätzlich vertrauensvollen Lebensorientierung herauszumodellieren. Sie haben den entscheidenden Kern als "Kohärenzsinn" (Sinn für Stimmigkeit) bezeichnet. Für den Alltagsgebrauch würde man wohl am besten sagen:

Herzstück der Heilwerdung des Menschen sind ein Sinn und ein Gefühl für die Verankerung des Lebens. Die Kernkompetenz einer gelingenden Lebensentwicklung ist aus salutogenetischer Perspektive die Fähigkeit, im eigenen Leben Sinn zu entdecken, zu stiften oder zu empfangen.

Der Sinn für Verankerung ist gleichermaßen eine geistig-spirituelle Grundorientierung wie auch eine Handlungsweise. Drei verschiedene Dimensionen lassen sich darin genauer bestimmen. Menschen mit hohem Sinn für Verankerung bestätigen: 1. meine Welt ist stimmig, 2. ich kann sie gestalten und 3. für mein Leben ist jede Anstrengung sinnvoll.

Diese Kompetenz läßt sich im Laufe des Lebens aufbauen und stabilisieren. Wer sich eine positive Grundeinstellung und ein Vertrauen auf die Ressourcen der eigenen Lebenswelt erwirbt, hat gute Chancen für eine heile Lebensentwicklung. Wer so denkt und lebt, verliert nicht zuletzt auch die Angst vor den unvermeidlichen Stressoren des Lebens. Ja noch mehr: Wer sich an den Ressourcen, Stärken und Potentialen orientiert, wird daran glauben, daß die Risikofaktoren des Lebens in der Regel "Gesundheitserreger" sind, die es ermöglichen, zu wachsen und zu reifen.

3. Salutogenese aus christlicher Sicht

3.1 Ein im Kern christliches Modell…

Salutogenese bedeutet Heil-Werdung. Auch wenn bei der humanwissenschaftlichen Wortschöpfung die theologische Perspektive am Anfang nicht Pate gestanden hat, so ist es aus christlicher Sicht völlig klar: Salutogenese ist von Anfang an und bis zum glücklichen Ende der Plan Gottes für das Leben der Menschen. Die Absicht Gottes ist die Heil-Werdung der Welt mit all ihren Geschöpfen. Er sandte seinen Sohn in die Welt, weil im Menschen die Sehnsucht und die Bedürftigkeit nach Heil wohnt.

Heil ist aus theologischer Sicht ebenso wie Erlösung ein Zentralwort für das Handeln von Jesus Christus. Heil bringt dabei stark den positiven Charakter des geschenkten Lebens zum Ausdruck (Josef Ratzender). Das Heil des Menschen ist Person: Jesus Christus. Wer zu ihm in Beziehung tritt und sein Leben von ihm prägen läßt, der wird aufgenommen in die endgültige Geschichte des Heils.

Der Glaube würdigt so die Sehnsucht des Menschen nach Glück und Heil. Er stellt das heilende Handeln Christi in den Kontext der offenen und geheimen Grundfrage aller Menschen, aller Philosophien und Religionen: Wie kann der Mensch wirklich glücklich werden Und die Antwort des christlichen Glaubens lautet: Glücklich wird der Mensch, wenn er sich hineinnehmen läßt in den heilenden Lebensraum Gottes. Und alles, was dem Menschen auf dieser Welt an Gelingen geschenkt wird, ist ein wunderbarer Vorgeschmack auf das allumfassende Heil, was ihm von Gott her "im Himmel" bereitet ist.

Wahrhaft erlösend am christlichen Glücksverständnis ist die mit Jesus Christus gekommene Befreiung vom Zwang zur Vollkommenheit. Als Menschen besitzen wir die Erlaubnis zum Fragment. Die christliche Botschaft vom Glück integriert die Last und die Würde der Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens. Auch Scheitern und Leiden werden nie ein Hindernis sein, von Gott her in das endgültige Glück aufgenommen zu werden. Und die Glücklichen werden aufgerufen zu tatkräftiger Solidarität mit den Unglücklichen dieser Welt.

3.2 Lebenskräfte fördern: Wie geht das praktisch

Es ist stets ein Wagnis, differenzierte humanwissenschaftliche und theologische Aussagen in Handlungsweisen zu übersetzen. Auf der anderen Seite gilt jedoch auch: Je konkreter und alltagsrelevanter, um so größer ist die Chance zur Umsetzung. Daher seien hier zum Abschluß auf dem Hintergrund eines ganzheitlichen Salutogenesemodells zehn Anregungen für ein "salutogenetisches Alltagsprogramm" aus christlicher Sicht formuliert.:

1. Vergewissern Sie sich immer wieder, daß Gott Sie zu einem Leben in Fülle berufen hat.

2. Üben Sie sich ein in die salutogenetische Perspektive: Lernen Sie das Staunen angesichts der Vielzahl der gottgeschenkten Möglichkeiten, das Leben zu meistern.

3. Orientieren Sie sich an Ihren Ressourcen, Charismen, Stärken und Fähigkeiten. Defizite sind eigentlich sehr selten interessant.

4. Betrachten Sie die unvermeidlichen Belastungen des Lebens nicht als "Streß", sondern als Herausforderungen zu Wachstum und Reifung.

5. Tragen Sie Sorge für Ihre Freundschaften, lassen Sie sich ihre wertvollen Beziehungen auch viel kosten.

6. Überlegen Sie, in welchen Bereichen Ihres Lebens Sie Ihre Selbstverantwortung und die Verwirklichung Ihrer Ziele und Entscheidungen verstärkt entwickeln möchten.

7. Verwenden Sie auch Energie dafür, die Lebensbedingungen in Ihren Stadtvierteln, Pfarreien, Diözesen und Gemeinschaften gesundheitsförderlicher zu gestalten.

8. Trauen Sie Ihrem Glauben zu, daß er die Macht hat, all Ihre verschiedenen Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen des Alltags zu prägen und – wenn nötig – zu verändern. Üben Sie ein, was der Glaube Ihnen zu leben vorschlägt.

9. Befreien Sie sich von dem heute allgegenwärtigen "Zwang zum Glücklichsein". Gott gibt Ihnen die Erlaubnis zum Fragment. Sie sind ein geliebter Mensch in Ganzheit und Zerbrechlichkeit.

10. Lassen Sie sich niemals die Freude an der Hingabe nehmen. Im Gegenteil: Trauen Sie der Verheißung: Wer sein Leben hingibt, wird es empfangen.

4. Zum Weiterlesen

Jacobs, C. (1998). Darf ein Priester glücklich werden Salutogenese. Eine neue Perspektive für die Gesundheit von Priestern und Ordensleuten. Diakonia, 29 (3), 182-189.

Jacobs, C. (2000). Salutogenese. Eine pastoralpsychologische Studie zu seelischer Gesundheit, Ressourcen und Umgang mit Belastung bei Seelsorgern. Würzburg: Echter.